Video readings




Gang durch den Wald (selection)


Gang durch den Wald was conceived first as a series of short video readings to be viewed on Ines Birkhan's blog.  Some parts were rewritten later.


Elisa:

„Halt! Geht nicht hinauf! Die dort oben sind keine Menschen mehr, sie haben sich verwandelt!“ „Achtung, da leben Drachen!“ Mit solchen und ähnlichen Rufen empfingen uns die Leute am Fuß des Simetsbergs. Eigentlich hatten wir den Dörflern ausweichen und den Aufstieg sofort beginnen wollen, um nicht wieder Teile unseres Proviants abgeben zu müssen.
„Ganz normale, reiche Fettsäcke, dachten wir damals, als die Drachen – lange vor dem Kollaps – mit ihren Jeeps in unser Tal einfuhren, um an sonnseitigen Hängen Sommerresidenzen aufzubauen.“ Aufgeregt gestikulierend versammelten sich die Dorfbewohner auf der Landstraße. „Jetzt hocken sie wie Basilisken auf purem Gold.“ „Hahnenköpfige, geflügelte Schlangenkörper!“ „Steigt ja nicht hinauf! Aus Geiz murksen die Scheusale alles ab, was jung ist.“
Selbstverständlich hielten wir diese Reden für absurde Angstmacherei in der Absicht, uns von den fruchtbaren Gebieten abzuhalten. Als die Dörfler merkten, dass wir auf ihre Warnungen nicht eingingen, lachten sie spitz: "Ihr seid nicht die ersten, die ins Verderben rennen.“

Weil die weitläufigen Hänge des Estergebirges gute Erdböden bieten – die letzten der Region unterhalb der 67% Grenze – waren wir mehrere Wochen lang unter erheblichen Mühen aus der Umgebung von Passau dorthin gewandert. Das steile Land im Umkreis birgt noch seltene Level B3 Ressourcen, die neue Hybridzüchtungen erlauben.
„Hört auf uns!", insistierten die Bewohner. „Wie viele von euch Frischlingen sind schon losgezogen und niemals zurückgekommen.“ Erst aus der Nähe wurde uns klar, wie herabgekommen die Dörfler waren. Unterernährt und in Lumpen traten sie auf uns zu, etliche Gesichter von schuppigen Ausschlägen überzogen. „Wer kehrt denn freiwillig in dieses Loch zurück?“, entfuhr es Agathe abschätzig, woraufhin einige der Leute vom Tal wütend ausspuckten.
„Ach, was seid ihr grün hinter den Ohren. So glaubt uns doch! Ab hier gilt Vorsicht – bei jedem Schritt!“ Dabei deuteten sie auf die Böschung jenseits des Weges. „Die hinterhältigen Drachenmenschen haben bereits tief unten im Wald Fallen ausgelegt.“ „Sie werden euch töten und fressen“, drohte eine Frauenstimme. Wir lachten. „Falsch!“, erwiderte ein düsterer Mann, den Zeigefinger emporgereckt. Aus seinen unterhöhlten Augen drang Zorn. „Männer fangen diese Unmenschen, um sie als Arbeitstiere auf der Schattseite zu verkaufen! Was mit den Frauen passiert, wissen wir nicht – na ja, es wird von einem Harem gemunkelt." „Okay. Vielen Dank für die Auskunft“, nickten wir begütigend, um endlich weiterzuziehen. Hatten die Leute hier allesamt ihren Verstand verloren? „Sie besitzen riesige Genitalien, müsst ihr wissen!“, schrie der Mann weiter. „Riesengroße rote Schwänze und Eier mit denen sie wild um sich schlagen. Meine Tochter ist der Beweis. Sie hat eins abbekommen von so einem Zentnergewicht. Schaut sie euch an!“ Besagte Tochter trat vor und entblößte ihre Schulter und Teile des Rückens. Zu sehen war ein großflächiger nesselartiger Ausschlag, der sich entzündet hatte.
Als wir uns an den mehr als seltsamen Einheimischen vorbeidrängten, bildeten sie unvermutet eine Barriere. Da wir vor Handgreiflichkeiten allein schon aus Angst vor ansteckenden Krankheiten zurückschreckten, hieß es verhandeln. Nützliche Informationen bezüglich der Aufstiegsmöglichkeiten gegen einen Sack Maiskörner. Etliche Medikamente wurden uns abgerungen, für eine handgezeichnete Landkarte gaben wir schweren Herzens eine Ringelblumensalbe.

Hört nun unseren Bericht über eine Zeit, die, kurz gefasst, einem Ringen nach Sauerstoff glich. Erinnerungen an einen Würgegriff, dessen Fingerabdrücke auf unseren Kehlen gerade erst verblassen. Entscheidet selbst, an was für Wesen wir da geraten sind.
Basilisken waren es wohl, sage ich! Ihre Blicke töteten zwar nicht, hochgiftig waren sie dennoch. Hätten wir den Dörflern bloß geglaubt!


Kathi:

Unsere Kleidung war auf einen Haufen geworfen und mit gebranntem Kalk und Wasser desinfiziert worden, den Proviant hatten sich die alten Männer einfach gekrallt und in ihren Palästen verstaut. Bald erhielten wir Befehl, uns gegenseitig zu waschen, während die Herren unverschämt glotzten. Schwollen ihre Genitalien auch an, von monströsen Ausmaßen kann keine Rede sein. Danach wurden wir gefesselt, um schließlich halbnackt von Gewehrkolben begleitet unseren Marsch anzutreten.
Beim Gang durch den Wald musste Chris, der Jüngste, ganz vorne gehen. Seine Arme waren an Oberkörper und Hüfte festgezurrt, sodass er wie ein halb mumifizierter Wurm durchs Gehölz stolperte.
Dem Burschen vor mir, Werner, hatten sie die Arme am Rücken festgebunden, ihn zusätzlich sogar geknebelt. Werner ist ziemlich athletisch gebaut, und ich wusste, dass er Kick-Boxen gelernt hat. Mit vielsagendem Blick drehte er sich damals zu mir um. Sicherlich überlegte er, ob seine Fußtritte genügen würden, um ein paar Kiefer auszuhängen. Nur eine kleine Unaufmerksamkeit der Alten, dann könnte er endlich ausscheren!
Bei mir waren Hand- und Ellenbogengelenke so eng mit Gaffertape verschnürt, dass die Oberarme meine Brüste quetschten. Den Kopf konnte ich durch die Art der Fesselung nicht wenden und er verfing sich in unzähligen Spinnweben.
Es war der helle Wahnsinn, wie dieser Seniorentrupp bei unserer Gefangennahme in eine regelrechte Gaffertaperage geriet. Die Herren hatten sichtlich Übung! Jeder einzelne von uns hatte seine individuelle Schnürung erhalten.


Chris:

Beim Anblick der sterbenden Föhren ringsum hätte ich mir vor Verzweiflung die Haare raufen wollen. Dass die Bäume, je weiter wir Richtung Norden vordrangen, kahler und brüchiger wurden, war unübersehbar, obwohl unsere Sinne nicht von Kindesbeinen an darin geschult waren, den Niedergang der Wälder zu beobachten. Im Gedächtnis der Landbewohner dagegen häuften sich längst Kartografien von verseuchten und ausgelaugten Böden, wo weithin nur noch Schachtelhalmfelder gedeihen. Diese Pflanze ist unverwüstlich! Zum damaligen Zeitpunkt konnte ich allerdings den giftigen noch nicht vom essbaren Schachtelhalm unterscheiden.

Ob unsere Sklaventreiber sensibel genug waren, die Klagelaute des Waldes zu vernehmen? Ich erinnere mich jetzt noch an Sätze, die sich voller Pathos in meinem Kopf formten: „Diese hohen Bäume sind die wahren Älteren, nicht der schändliche Haufen, der hier in khakifarbener Sport- und Jagdkleidung seine Habe verteidigt und aus uns Kapital schlagen möchte. Mit eurer protzigen Garde wollt ihr wohl die Menschheit enden lassen. Aber das soll euch nicht gelingen! Wir werden uns freikämpfen, vielleicht sogar mit Hilfe niedergehender Baumkörper. Hört, ringsum häuft sich das Krachen, gefolgt von dumpfem Aufschlag. Möge es nur die Richtigen treffen!“

Durch die flechtenüberwucherten, kahlen Föhrenkronen griff grelles Licht, wie Laserstrahlen aus einem enormen Stigma. „Stellt ihn euch vor, den Handteller des Riesen, der uns hier mit klaren Gedanken versorgt. Genießt das Licht!“, rief ich laut. „Es ist doch sonst nichts mehr ungefiltert zu bekommen!“ Ich wendete mich in alle Richtungen, nur wenige aus meiner Gruppe nickten mir müde zu.
Da erhielt ich einen Tritt in die Lendenwirbel. Sobald ich wieder atmen konnte, begann ich zu singen: „Denn die einen sind im Dunkeln. Und die andern sind im Licht...“ Der zu erwartende Schlag mit dem Gewehrkolben folgte, ich lachte ziemlich irre auf und fragte, ob man hier wohl einen Mackie Messer kenne. Der Alte glotzte karpfenmäßig zurück und schon schlängelte ich mich Kopf voran zwischen seine Beine, mein Gesicht ganz bezahntes Maul eines Neunauges, um nur ja gut die Eier zu fassen.

Ein gellender Schmerzschrei drang durch den Wald. Alle rissen den Kopf in meine Richtung herum. „Das war ich, Leute! Das war ich!“, rief es aus mir heraus, während ich Blut im Mund und auf den Lippen schmeckte. Mein Zeigefinger deutete auf den eingerollten, sich windenden Alten. Da wurde ich gepackt und es hagelte steinerne Ohrfeigen. Trotzdem konnte ich erkennen, wie sich die restliche Schar, nur noch lose bewacht, zu einem engen Grüppchen formte und rasten durfte. Ein Flüstern wehte durch die Reihen.

Als ich abends erwachte, hatte sich mein Köper in ein Sammelsurium stechender, pochender Schmerzpunkte verwandelt und war derart wund, dass selbst ein sanfter Windhauch wehtat. Den gedämpften Stimmen der Alten neben mir waren sinnvolle Satzfetzen zu entnehmen. Offenbar berieten sie nicht mehr, wie mit mir weiter zu verfahren wäre, wie meine Bestrafung auszufallen hätte. Ihr Austausch war allgemein gehalten und verwunderte mich einigermaßen.

„Aber diese Jugendlichen sind besonders unausstehlich. Nur hochgestochenes Palaver, ohne Bezug zur Realität. Wie begrenzt ihr Wissen ist!“, sagte einer. „Erschreckend!“, pflichteten andere bei. Daraufhin eine recht hohe Stimme: „Bedenkt aber, dass sie in den Schulen nicht genug Überlebensstrategien mitbekommen haben. Die Lehrer dort hatten nichts Besseres zu tun, als die kostbare Zeit der Kinder in einen obskuren Faltenwurf zu bringen, von dem sie nur die leuchtenden Oberflächen in Erinnerung behalten – den Besuch von aufgeputzten Reservaten und Gerede über kollektiven Zusammenhalt...“ Blätterrauschen verdeckte die folgenden Passagen, einzelne Worte wie „beinharte Realität“ und „verschattetes Inneres“ tauchten auf. Danach zischte ein Mann, der eigentlich immer grob agierte:„Hör auf zu schwafeln, Holger!“ Der Hagere mit der Adlernase beschwichtigte: „Genau, spiel hier nicht den Beschützer.“
Jemand kam auf die Beine und trat ans Lagerfeuer. Schnell schloss ich die ohnedies geschwollenen Augenlider. „Ich seh die Sache nicht so harmlos!“ Es war der, den ich gebissen hatte. „Immerhin wollten sie sich unsere schöne schwarze Erde unter die Nägel reißen! Erinnert euch doch, wie wir sie am Waldrand ertappt haben, die frechen Dreckspratzen tief in unser Heiligtum vergraben.“
„Und dass sie nicht einmal imstande sind, den Acker- vom Sumpfschachtelhalm zu unterscheiden...“
Dann wieder die hohe Stimme, ziemlich leise: „Und ich sag euch, man kann ihnen das nicht zum Vorwurf machen!“ „Ach, Holger!“ „Die Fesselungen waren zu grob“, protestierte die Stimme weiter. „Einige von euch haben weit über die Stränge geschlagen.“ „Wie sollten wir sonst die Konsequenzen eines derartigen Fanatismus unterbinden?“, folgte die Retourkutsche.
„Aber wir waren uns doch längst einig – bei uns können sie nicht bleiben! Kollektiver Zusammenhalt auf einem überbevölkerten Boden, der sein letztes Röcheln ausstößt, ist verkehrter Idealismus, ist zum Scheitern verurteilt. Wir müssen sie wie die anderen irgendwo an entlegener Stelle unterbringen.“
„Kästner hat Recht. Bis auf den letzten Tropfen hätten sie uns ausgesaugt. Eine neue Art von Vampiren ist das, die sich da auf die Alten hockt!“ „Sich an unserem wohlverdienten Schmaus gütlich zu tun...“
„Wie dem auch sei. Einige werden draufgehen, andere eine Form der physischen Anpassung finden. Ein Aussieben, das der Menschheit letztlich dient.“ Im Eindämmern sah ich mich als Kind, das Sand durch ein Sieb rieseln lässt. „Genau“, vernahm ich dann noch mit letzter Anstrengung. „Faktum ist: Wir haben alles bedacht und durchgerechnet. Unsere Enklaven sind Überreste einer glücklichen Epoche… und – ja, wir horten, um unsere alten Tage in Ruhe zu verleben. Mit dem Austicken unserer Zeit versiegt die letzte Reichhaltigkeit.“
So war das also.


Solveig:

Als Strafe für Chriss glorreiche Entgleisung hatten die Drachenköpfe für die zweite Nacht unsere Fuß- und Handgelenke festgebunden und uns wie Perlen in einer Reihe aneinandergekettet. Gewand und Decken waren zwar ausgehändigt worden, doch schlafen konnte keine von uns. Wir Mädchen lagen im Kreis um ein Lagerfeuer, die Burschen abseits. Den Gedanken, das Seil im Feuer zu schmelzen, hatten wohl die meisten bereits durchgespielt, aber der Plastikgeruch hätte das Vorhaben ohne Zweifel verraten. Die Wachen wurden schon beim kleinsten Mucks hellhörig. Und wäre eine Flucht auf eigene Faust nicht ohnehin selbstmörderisch gewesen?
Miteinander reden durften wir nicht, auch Zeichensprache wurde sofort unterbunden. Auf sieben von uns kamen acht Wachen. Immer wieder prüfte ich ihre Aufmerksamkeit. Eines stand fest: Die Methusalems wollten nach dem scharfen Biss in die Eier – ich musste grinsen, wenn ich daran dachte – kein Risiko mehr eingehen.

Während ich in meine Decke gewickelt dalag, unfähig, mir den Atem anders als in krampfhaften Schlückchen zuzuführen, wuchs meine Furcht vor dem Morgen. Über eine Stunde verbrachte ich völlig unbewegt, in vibrierende Zinken verwandelt, die angstvoll Zukunftsszenarien durchkämmten. Allzu gern hätte ich die Zeit anhalten wollen, spürte aber, wie ihr Strang durch meinen Magen hindurchreichte und zog und zerrte, bis ich endlich aufgrund der fortschreitenden inneren Anspannung erkannte, dass es nutzlos war, dem Reiben an meinem Gedärm zu trotzen. Wie sollte ein einzelnes Organ die rauen Fasern und deren Drang nach Bewegung aufhalten? Der vorgegebenen Richtung war Folge zu leisten, auch wenn mir davon schwindlig und schlecht wurde.

Schließlich waren doch noch sanfte Schlafgeräusche der Mädchen zu vernehmen, aber das beruhigte mich damals keineswegs, sondern weckte eher Zorn gepaart mit der niederdrückenden Ahnung, dass alle Hoffnung auf ein Entkommen dahin sei. Ansonsten ragten hie und da ein kurzes Rascheln und Fiepen eines Nachttiers oder das Knacken eines Astes aus der windleeren Stille. Und sehr dominant wurde – das schwelende Lagerfeuer. Mein Geruchssinn war davon dumpf geworden, mein Körper insgesamt von der Räucherung derart durchwirkt, dass mich die Phantasie einholte, ich sei ein Stück totes Fleisch, zur Konservierung auf dem Waldboden ausgelegt.

Plötzlich schien auch das diskrete Treiben der Tiere beendet. Wie konnten sie mich im Stich lassen? Wenigstens punktuell hatten sie meine Aufmerksamkeit an reale Geschehnisse gebunden und mich aus den ins Leere stürzenden Bahnen der Wachträume katapultiert.

Kurz vor Sonnenaufgang öffnete sich im Wald ein weiteres Plateau innerhalb der Stille, eine Steigerung innerhalb der Einsamkeit. Meine verfluchten Ohren widerstanden nicht dem Drang, tiefer in diesen Spuk hineinzuhorchen. Wie sehr wünschte ich, es würde endlich Tag werden! Denn zwischen mir und dem Wald hatte sich eine verzweifelte Symbiose entsponnen. Ich brauchte ihn, klammerte mich an ihm fest, um nicht alleine zu sein, indessen marterte er mich mit seinem unhörbaren Ächzen. Sein Leiden ging auf mich über, es war meinem angeschlagenen Inneren ohnehin ähnlich. Schließlich reichten wir einander nichts weiter als einen Kelch voll sämigem Kapitulationstrunk, ein dunkelgrüner Brei mit schwarzen Kernen darin.
So einer Endlosschleife durfte ich mich nicht länger aussetzen, also zwang ich mich aus dem Halbschlaf heraus und wendete mich vorsichtig zur Seite, dem heruntergebrannten Feuer zu, ohne die Frauen an Kopf- und Fußende aus ihrer Seligkeit zu reißen. Mein Körper war starr vor Kälte. Nur wenige Holzscheite glommen noch. Ob die Wachen eingenickt waren? Meine Bewegung hatte sie anscheinend aufgescheucht, denn langsam kam nun einer der Alten auf die Beine, dann ein zweiter. Gemeinsam trugen sie Holz herbei, legten nach und mühten sich, das Feuer wieder in Gang zu bringen.



Sowie sich erste Sonnenstrahlen zwischen die Baumstämme schmuggelten, atmete ich befreit auf. Diese Nacht war endlich überstanden! Im nächsten Moment erhob sich wieder ein Wächter, der kleine Bärtige mit den Beulen am Unterschenkel, und kam auf mich zugeschlichen. Sofort begab ich mich in Schutzhaltung, aber er formte das Friedenszeichen mit den Fingern und signalisierte, dass er mit mir sprechen wolle. Seinen Kollegen waren schließlich doch noch die Köpfe auf die Arme gesunken.
Der Alte brachte seinen Mund dicht an mein Gesicht und flüsterte mir zu, nur ja die Ohren zu spitzen, denn er gebe nun unerlaubt einige Information preis. Sein Atem roch nach Knoblauch, Wellen des Ekels und Neids überkamen mich. Ich wäre ihm als still und feinsinnig aufgefallen, deshalb hoffe er, dass ich mir das Folgende gut einprägen würde.

Unser Weg führe zu einer verlassenen Hütte im Stiftswald beim Karwendel, zwei Tagesmärsche vom Standort. „Dort warten drei Hektar Boden auf euch." „Stark kontaminiert?“ "Etwa 78%, Level B5.“ Um ihn auf längere Sicht nutzbar zu machen, wäre es nötig, zwei Jahre lang ausschließlich Riesenknöterich und indischen Senf anzubauen. Diese Staudengewächse würden dem Erdreich die schlimmsten Schadstoffe entziehen und in Stiel und Blättern speichern. Die Pflanzen müssten jeweils nach einem Jahr samt Wurzel entfernt, getrocknet und verbrannt werden, und die anfallende Asche sollten wir nicht zum Düngen verwenden, sondern sicher entsorgen. Erst dann wäre Gemüseanbau sinnvoll, aber nur, indem wir jeweils eine Reihe Bodensanierer neben die Nutzpflanzen säen und im Folgejahr deren Plätze vertauschen. Ich nickte ungeduldig, da ich über die RK/S-Bodensanierung im Bilde war. Der Ackerschachtelhalm wäre übrigens eine besonders dankbare Pflanze. Und während der Alte in den prall gefüllten Taschen seines Safarigilets wühlte, fragte er, ob wir denn wirklich nicht wüssten, dass man den Ackerschachtelhalm als Gemüse kochen, sogar roh verzehren und als Teepflanze nutzen könne? Außerdem wirke er blutstillend und sei hilfreich bei Nieren- und Harnwegsentzündungen. „Doch, doch, wissen wir.“ „Ach so“, meinte er und zog die Brauen zusammen. Hastig ließ er seine Augen über die Lichtung schweifen, um sicherzugehen, dass niemand Zeuge seiner Aktion wurde. Er drückte mir drei Päckchen in die Hand. Diese sollte ich ins untere Ende der Hosenbeine einschlagen und sofort im Stiefel verschwinden lassen. „Jagd. Beeren und Triebe. Nur ja keine Pilze essen!“, zischte er mir im Weggehen noch zu.


Werner:

Am meisten litt ich an diesem Punkt unter dem Eindruck, dass die Mädchen über Informationen verfügten, die uns bewusst vorenthalten wurden. Offensichtlich bevorzugten die Alten die Mädchen. Eine Möglichkeit, mit ihnen zu kommunizieren, gab es nicht, das gehörte ja bereits seit der Gefangennahme zum Verwirrspiel. Auf unsere Fragen hin deuteten sie nur vor dem Mund das Drehen eines imaginären Schlüssels.

Mit enormem Tempo sind die Mädchen in der Früh losgezogen. Den Tag über wurden wir nonstop durch den Wald gehetzt. Die Alten trieben uns gar nicht besonders an, sondern konzentrierten sich darauf mitzuhalten, und wir jungen Männer wankten wie Idioten hinterher. Während der Pausen gab es nur spärliche Mahlzeiten, obwohl die Versorgung sonst relativ gut lief. Tiere zu schießen, das verstanden die Alten. Mir drängte sich das Gefühl auf, dass sie uns verachteten, weil wir so wenig Erfahrung im Jagen hatten. Sie erwarteten Fertigkeiten, deren Erwerb in der Stadt ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die Situation war fatal und absurd, weil wir doch, nachdem die Eltern von einem Tag auf den anderen ausgefallen waren, geradezu nach Menschen suchten, die uns dabei helfen, ein Leben außerhalb der Stadt zu meistern. Außerdem hatten auch die Alten beachtliche Wissenslücken. Dinge, die für uns selbstverständlich waren, bildeten für sie Stolpersteine. So merkte ich bei einer Rast, wie einer von ihnen sich vergeblich mit dem Reinigen völlig verklebter Filter an einzelnen Wasserflaschen abmühte. Ich hätte ihm zeigen können, wie man ein Filter aus Holzkohle, Birkenrinde, Sand, Stroh, Kieselsteinen und Gräsern baut, aber wir durften ja den Mund nicht öffnen.

Insgesamt gebärdeten sich die Alten von Tag zu Tag überdrehter und kindischer. Sie verlangten immer seltsamere Dinge von uns. Während wir im Morgendämmern zu einer Suchjagd angeleitet wurden, hüpften sie durch den Wald und imitierten Bewegungen von Astronauten auf der Mondoberfläche. Sie steckten Fähnchen in den Boden, und wir hatten versteckte Fliegenpilze oder Topinamburknollen zu finden und einen Reigen zu tanzen. Innen wir Burschen, statisch, mit den Fliegenpilzen, außen die Mädchen mit dem Topinambur in einem Kreis, der sich im Uhrzeigersinn um uns drehte.
Im Laufe des Vormittags mussten drei Burschen hinter mir geblümte Kopftücher tragen, während ich mit einem Haufen flacher Steine aus dem Bach beladen wurde. Als ich für einen Moment Auge in Auge mit einem Alten stand, verharrte dieser völlig reglos und stumm und ignorierte mein „Die Last ist schwer!“-Deuten. Ein anderer trug einen Flechtenbart, Rindenstückchen im Haar und eine Kette aus gedrehten Farnwedeln, er murmelte unverständliches Zeug vor sich hin – eine Art Sprechgesang. Ab und zu packte er mich am Arm, grinste und nickte heftig mit weit aufgerissenen leuchtenden Augen. Nach etwa zehn Kilometern durfte ich die Steine endlich wieder ablegen.

Wie nach einer Bruchlandung saßen wir schließlich als zersprengter Haufen auf halb verrotteten Paletten an die Steinmauer eines verfallenen Landhauses gelehnt. Gerade hatten die Alten verlautbart, es sei ratsam, in diesem Gebiet möglichst wenig Hautkontakt mit der Erde zu haben. Nach dieser Warnung erhielten wir jeder fünf Rosinen.


Kathi:

Die erste Nacht in dem verfallenen Landhaus erlebte ich als äußerst gespenstisch. Nach stundenlanger Gehtrance spannte sich abends die körperliche Erschöpfung wie ein Ölfilm über mein Bewusstsein und verklebte die Sinne.
Wir sollten hinter versperrter Tür in der verstaubten Dachbodenkammer auf Holzdielen schlafen. Der Raum war von Spinnen bevölkert und die Luft stickig. Unten rumorten die Alten. Sie hatten verkündet, wir wären nun am Ziel angelangt, dieses Haus stelle ihr Geschenk an uns dar. Daraufhin erhofften wir natürlich ihren baldigen Abzug, aber ich ahnte sofort, dass sie sich geraume Zeit im Haus einnisten würden, weil ich auf ihren Tischen eine Reihe Schnapsflaschen erspäht hatte.

Ich vermisste meine Mutter! Damals nach dem Murenabgang noch länger in der Stadt zu bleiben, um Menschen im Schulgebäude unter den Trümmern zu suchen, hätte zu nichts geführt. Es war völlig aussichtslos. Was vermag der Anblick verschütteter Körper schon an Positivem zu bewirken? Einige in der Gruppe behaupteten, sie wären besser mit der gesamten Situation zurechtgekommen, hätten sie sich damals auf irgendeine Weise von ihren Familienangehörigen verabschiedet. Ich glaube das nicht.



Werner:

Die ungewohnt verspielten Möbel im Landhaus boten eine gewisse Ablenkung. Kniehohe Tischchen mit ovalen Steinplatten und geschwungenen Rokokobeinen, gepolsterte Stühle, bauchige Kommoden und Stehlampen mit ausladenden Lampenschirmen. In einer Ecke des Vorraums standen zwei riesige handgeschnitzte Bauerntruhen, angefüllt mit mottenbefallenen Theaterkostümen und Accessoires. Wir rätselten, ob zuvor Schauspieler in diesem Haus gelebt hatten und wann sie geflüchtet waren. Es fanden sich nämlich sonst keine Hinweise auf die früheren Bewohner – weder Fotos noch Bücher noch persönliche Gegenstände. Warum gerade der Inhalt der Truhen zurückgeblieben war?

Als die Alten uns einmal dort ertappten, wurden wir durch Zischen und Händeklatschen auf eine Art weggescheucht, wie man mit lästigen Tieren umgeht. Sie beschlossen, auf der Stelle die beiden Holzmöbel vor unseren „Dreckspratzen“ in Sicherheit zu bringen und in die Wohnstube zu transportieren. Langsam sollte sich herauskristallisieren, was die Entdeckung der Truhen bedeutete – ausufernde Schikanen. Anstatt uns dem Schicksal zu überlassen, inszenierten die Spinner nun Laientheaterstücke, bei denen besonders die Mädchen herhalten mussten. Ich schämte mich für mein ursprüngliches Misstrauen ihnen gegenüber.


Elisa:

Nachdem die langen Haare auf Bubikopflänge gekappt worden waren, folgte eine idiotische Scheitelungsprozedur. Die Alten umflatterten Solveig krakeelend wie ein Schwarm Seemöwen, eine gemeinsame Beute im Visier. Sie waren ziemlich besoffen. Nur Lauschitz, der als Wachposten mit seinem Gewehr auf- und abschritt, schien nüchtern. Ehe wir den Grund für das aufgeregte Kreisen der Alten begriffen hatten, wanden wir uns zornig unter den Fesseln entlang der Holzpfosten, an die wir festgezurrt waren.
Dass ein harmloser ästhetischer Beweggrund bei diesen Männern derartige Energien freisetzte, war ein weiteres Zeichen für die Unberechenbarkeit ihres Handelns. Seit unserer Gefangennahme standen wir im Bann solcher beliebiger Mechanismen. Das Verhalten der Alten auf ihren imaginären Königsstühlen entsprang sichtlich der Gewissheit, ihnen stehe eine Autorität zu, die sie zu jeder Willkür berechtige.

Die Szene um Solveig entwickelte sich bald zur Groteske. Was hier um einer perfekten Scheitellinie willen geschah, welche Kräfte verpulvert wurden – sagenhaft! Ein Transport von Stühlen, Spangen, Bürsten und Kämmen kam in Gang, und dann ein Art Wettkampf. Der Mann, der den Kamm mit den längsten und dichtesten Zinken in der Hand hielt, durfte die Feinarbeit am Scheitel übernehmen. In ihren schrillen Rufen schienen die Alten im Moment, da einzelne Haare in eine falsche Richtung gebogen wurden, überzuschnappen. Weil Solveigs Mähne tatsächlich borstig und widerspenstig war, verschwendeten diese Spinner sogar eine Flasche Bier, um sie zu glätten! Wenigstens ist es Solveig gelungen, mit der Zunge immer wieder herabfließende Tropfen der herrlichen Flüssigkeit einzufangen.
Mir war aufgefallen, dass sich der stille bärtige Holger, der Solveig die Samen zugesteckt hatte, seit Beginn der Scheitelungsprozedur in die Peripherien des Raums zurückgezogen hatte. Den Grund dafür sollten wir bald erfahren.

Zur Einleitung des folgenden Spiels hatte der uns besonders verhasste Kästner mehrere Runden gedreht. Er war in den prunkvollsten Samtmantel aus der Truhe gehüllt – den blitzblauen Umhang mit Kragen aus Kunsthermelin – und wie ein Kind auf einem Bein gehüpft, vor Freude jauchzend. Seine Linke läutete eine Kuhglocke und er ließ sich auf einer hohen Leiter nieder, um von oben minutiöse Anweisungen zum Spielverlauf zu geben. Das Recht, sich im Alleingang so aufzuplustern, gewährten ihm die Alten wohl mit Rücksicht auf die Verletzung seiner Hoden. Sich bei Chris zu revanchieren, bereitete ihm unbändigen Spaß.


Chris:

Als Solveig während Kästners Ludwig XIV.-Stegreifspiel in einer grünen Uniform vortreten musste und einen Strauß aus Geißblattzweigen in den Mund bekam, wurde zu unserem Staunen der bärtige Alte herbeigeschleppt und mit Rippenstößen angewiesen, Solveigs Taille und Hand zu fassen und mit ihr Tango zu tanzen. Der Bärtige war nackt, beim Anblick seines knochigen Körpers graute mir. Solveigs füllige Gestalt hingegen verschwand in der Uniform. Jackenärmel und Hosenbeine überlappten Hände und Füße, sodass entweder sie oder der Bärtige ständig auf den Stoff stiegen und einander zum Stolpern brachten. Von der Leiter herab sang Kästner Tango-Melodien, überhäufte die Tanzenden mit Beleidigungen und befahl dem Paar schließlich, sich neben mich auf den Boden zu knien, den Strauß aus Solveigs Mund zu lösen und mich mit den feinen weißen Geißblattblüten an der Nase zu kitzeln. Mein Gesicht wurde brennheiß und schwoll, ich bekam kaum Luft.
Joachim im Clownkostüm hatte währenddessen ein riesiges Sonnenemblem aus Pappkarton hochzuhalten. Die Scheibe war ungeschickt ausgeschnitten, zitronengelb bemalt und am oberen Ende eines langen Stabes befestigt. Das Sonnensymbol zeigte ein lachendes Gesicht mit Pausbacken, geschlossenen Augen und zwei, drei Tränen.


Werner:

Die folgende Nacht schlief Holger bei uns am Dachboden. Er schien sehr erschöpft und wollte anfangs nicht sofort mit uns sprechen, aber Solveig gelang es im Laufe des Abends doch, ihm einiges an Information zu entlocken. Das Verrückte war – die Alten hatten keinen konkreten Plan, sie improvisierten von Tag zu Tag. „Ursprünglich hieß es, möglichst rasch zurück ins Estergebirge, doch...“ „Was?“, drängte Solveig. “Was hält sie noch auf?“ „Sie haben Gefallen am Theaterspiel gefunden. Besonders seit der Entdeckung der Kostüme wächst ihre Lust, neue Szenarien auszufeilen und euch zu demütigen. Jeder möchte mindestens einmal so ein Stück auf die Beine stellen wie der Kästner heute“, meinte Holger und legte resigniert die Stirn in die Hände. Wir saßen ratlos da und schüttelten die Köpfe.
Danach bemühten wir uns herauszufinden, wie gut er das Land hier kenne, welche B-G Level die Feinstaub- und Wasserwerte aufzeigen und ob Nachbarn in der Umgebung verblieben wären. Er nickte, murmelte noch etwas vom Jagen, jetzt aber sei er zu müde. In Zukunft werde er ohnehin am Dachboden schlafen, weil seine Gruppe ihn loswerden wolle.

Lange lag ich wach und überlegte geeignete Strategien, um mit Holgers Hilfe Kästner und Co endlich aus ihren Sätteln zu werfen. Die Alten waren uns bei weitem überlegen – achtzehn Männer mit Feuerwaffen gegen dreizehn Jugendliche. Trotzdem, dank Holgers Informationen könnten wir Schwachpunkte im Lager der anderen eruieren und nutzen. Bis zum Gegenangriff würden wir emotional unberührt in ihrem lächerlichen Amateurtheater mitwirken.

„Das Kätzchen vom Stiftswald“ hieß die folgende Inszenierung des unheimlichen Thomann, der, Gewehr am Schoß und die Hände im Nacken verschränkt, mit anzüglichem Grinsen im Lehnstuhl saß. Die Regieführung hatte er an seinen Kumpel Wegener delegiert, dessen verwirrte Rechthaberei ein nervtötendes Chaos produzierte, ehe sich so etwas wie eine klare Rolle herauskristallisieren ließ.
Kathi sollte zunächst auf allen Vieren um die Beine Thomanns streifen und immer wieder von einem Schüsselchen wie eine Katze mit der Zunge Wasser aufnehmen. Wir anderen umkreisten sie als Hummeln oder Bienen mit Summgeräuschen. Kathi, der Katze, wurde dann befohlen, an Bauchkrämpfen zu leiden, sich am Boden zu winden, nach den Eltern rufend zu weinen und schließlich zu verenden. Bereits während der Proben war Kathi nicht gewillt, diese letzte Entwicklung ihrer Figur im Detail auszuführen, bei der sogenannten Premiere verweigerte sie das Spiel endgültig. Wie eingefroren verharrte sie auf allen Vieren neben der Wasserschüssel und reagierte auf nichts mehr.
Zuerst flippte Wegener aus, er schrie Kathi an, sie habe eine kranke Katze zu sein und solle jetzt endlich auf der Bühne krepieren. Thomann stürzte aus seinem Hinterhalt hervor und strich Kathi mit dem Gewehrlauf von Gesäß bis Kopf die Wirbelsäule entlang. „Du willst wohl gegen den Strich gestreichelt werden, was?“ Die restlichen Alten erhoben sich und kündigten äußerst unangenehme Konsequenzen an, denn Kathis Verhalten sei inakzeptabel, sich den Theaterstücken zu verweigern, sei Meuterei.


Kathi:

Als ich aufwachte, war ich noch völlig in einen Traum verstrickt. „Erde zu verkaufen... Erde zu verkaufen... Wer will schöne Erde kaufen...!“, hieß es da. Zahnlose Gestalten lallten es, ein Singsang auf dem Marktplatz in der Nähe meiner Heimatstadt. Nur einen einzigen Zwei-Liter-Sack voll B3-Erde hatte ich geklaut, wollte sie meinen Bohnenpflanzen zum Atmen geben, denn sie ersticken, sie ersticken! Dafür hab ich mir arge Prügel eingehandelt. Im Gärtchen meiner Eltern, ein kleiner Flecken 80%-Land, saß ich im Baumhaus über der giftigen Erde, hortete meine Pflänzchen und kaute an den Nägeln.
Als sich die Holzträger des Dachstuhls vor meinen Augen plastisch aus der Umgebung herauslösten, wurden mir Parallelen des Traums zur Realität bewusst und ich dachte an meine Verweigerung gestern. Es war zwar nur ein Anfang, trotzdem...

Noch vor dem Frühstück begann Holger, uns detaillierte Informationen zur hiesigen Kontaminierungszone anzuvertrauen. In Zukunft wolle er uns sogar seine Landkarte überlassen. Für Pilze und Wurzeln gelte vorerst ein absolutes Tabu, das nächste Ziel müsse sein, die Jagd nach Vögeln und anderem Kleintier ohne Feuerwaffen zu erlernen.
Aus dem Gespräch wurde deutlich, für wie unvorbereitet uns Holgers Gruppe hielt. Dabei fühlten wir uns durchaus gewappnet, die kommenden Schwierigkeiten zu meistern. Stefan und Anne gelang es immer, Hasen oder Ratten zu erwischen, viele waren gute Kletterer, stahlen Eier aus den Nestern, und zu Beginn bestand genügend Vorrat an getrockneten Früchten, ja sogar Milchpulver. Letzteres hatten uns die Alten bei der Begegnung natürlich abgeluchst. Nur bei der Jagd, Bodensanierung und Pflanzenkunde fehlte uns tatsächlich die Übung.
„Blabla!“, platzte mir plötzlich der Kragen, „wir sitzen hier und plaudern über unerhebliche Details anstatt konkrete Pläne für einen Gegenangriff zu schmieden! Wir müssen jetzt aktiv werden, Leute! Jetzt! Es ist Zeit, den Spieß umzudrehen, verdammt!“ „Kathi hat Recht!“, rief Wolfi gedämpft, “wir müssen endlich handeln, allein schon, um der angekündigten Strafe der Alten zuvorzukommen.“ „Aber wie? Schließlich patrouillieren sie Tag und Nacht mit ihren Gewehren auf und ab.“ „Am liebsten würde ich sie lebendigen Leibes verbrennen sehen!“ Natürlich war es nicht das erste Mal, dass wir Rachegelüste voreinander aussprachen, doch noch nie hatten sich unterschiedliche Positionen innerhalb der Gruppe so klar abgezeichnet. Es gab tatsächlich einige, denen eine Vertreibung der Alten aus dem Landhaus genügt hätte, sie wollten die Bestien einfach nur loswerden. „Und die gute B3 Erde im Estergebirge? Ist es nicht ungerecht, die jüngere Generation so auszuhungern? Wir sollten eine gemeinsame Umkehr und später die Teilung der Grundstücke erzwingen!" „Nein, nichts auf der Welt bringt mich dazu, in ihrer Nähe zu bleiben!“ „Ich glaube, wir werden es hier schaffen.“ „Ja, ich auch! Außerdem wollen wir uns nicht auf deren Niveau begeben, oder?“ „Nein, und ich möchte sie nicht töten, niemals einen anderen Menschen ernsthaft verletzen oder töten.“
Dass Holger in diese Beratungen miteingeschlossen war, fand ich unvorsichtig. Das Vertrauen in den Mann ging mir eindeutig zu weit. Wo lag der Beweis, dass er nicht als Spion eingesetzt worden war? Dafür hätte er zu viele Geheimnisse preisgegeben, meinte Stefan, als ich ihm gegenüber meinen Vorbehalt erwähnte. Seither hielt ich mein Misstrauen im Zaum, um den Antrieb, der die Gruppe gepackt hatte, nicht zu dämpfen.


Chris:

Mitten in der Diskussion – wir waren beinahe an dem Punkt, einen gemeinsamen Entschluss zu fassen – wurden wir von den Alten gerufen. Frühstück und dann Antreten zum Theaterspiel. Dass dies das letzte sein sollte, darin waren wir uns als Gruppe nun wenigstens einig.
Trotzdem schafften sie es, uns mit der als "Lehrstück" angekündigten Posse zu irritieren, denn da wurde unser fehlender Widerstand inszeniert, gespickt mit höhnischen Hinweisen auf verpasste Gelegenheiten. Wenigstens verbal hätten wir den Spieß oft umdrehen können. In einzelnen Nächten soll hier im Landhaus sogar die Möglichkeit bestanden haben, den Schlafraum zu verlassen, weil das Versperren der Tür nur vorgetäuscht gewesen sei. Dabei hatte es bestimmt keinen Abend gegeben, an dem nicht jemand versuchte, mit Draht den Bolzen vom Schloss zu bewegen.

Dieses Stück stellte eine der gemeinsten Provokationen überhaupt dar! Abends versammelten wir uns am Dachboden, kochend vor Wut, und selbst wer jegliche Gewalt abgelehnt hatte, stimmte nun Kathis Vorschlag zu. Es war einfach die gelungene Synthese mehrerer Vergeltungsideen. Niemand dürfe zur Zielscheibe von Gewehrsalven werden, doch ganz wie es ihrem Reptiliencharakter entspräche, sollten diese ekelhaften Kaltblüter über den vergifteten Erdboden robben – bis sie außer Sichtweite auf dem Weg ins Estergebirge waren.
Zufrieden erörterten wir mit Holger das genaue Vorgehen, denn er war es, der den Schlüssel für den Dachboden von einem der zwei Schlüsselträger ergattern sollte. Endlich erfuhren wir auch, wo die Seniorenriege die Gewehre versteckte.

Unser Plan war eigentlich überaus simpel: drei Uhr nachts Öffnen der Dachbodentür, Werner schleicht sich in den Schlafraum der Alten und schaltet möglichst lautlos die Wache aus, alle anderen folgen, holen die Gewehre aus den Verstecken und verteilen sich im Raum. Mit Gewehrkolben an der Schläfe die Alten aufwecken und unser Ultimatum stellen.


Kathi:

Hatte ich es nicht geahnt? Holger war nicht zu trauen! Während wir uns wie geplant in der nächsten Nacht von unseren Lagern erhoben, war er nirgends zu finden. Allerdings hatte er den Schlüssel innen stecken lassen. Als Werner in den Schlafsaal der Alten trat, waren sie weg!
Es schien auf der Hand zu liegen, dass es sich um eine Falle handelte. Nachdem jedoch etliche Stunden, ja ein ganzer Tag verstrichen war und die Alten nicht zurückkehrten, machte sich vorübergehend sogar Enttäuschung breit. Die Chance, es diesen sadistischen, habgierigen Wesen heimzuzahlen, war vertan!

Abseits des Waldwegs entdeckten Agathe und Stefan am nächsten Morgen eine zusammengekauerte Figur. Es war Holger, der sich wie ein sterbender Hund einen einsamen Platz fern von seinem Rudel gesucht hatte.
Die Gruppe beschloss, Holgers Leichnam würdevoll zu verbrennen, aber ich blieb während der Einäscherung im Haus und wollte diesen Mann in keiner Weise ehren, denn wie immer man die Dinge drehte und wendete, verraten hat er uns in jedem Fall.
Viele Stunden lang sahen die anderen schweigend dem langsamen Verschwinden der Körperstrukturen im Feuer zu, vielleicht auch im Glauben, die Teilnahme an diesem Vorgang werde ihnen helfen, sich von dem, was passiert ist, abzugrenzen.

Trotz meiner Bedenken zog es mich doch immer wieder zum Fenster hin. Von dort beobachtete ich meine Gruppe und die Verbrennung und überlegte, warum die Alten plötzlich freiwillig abgezogen sind. War Holgers Tod womöglich kein Zufall, und sollte ich doch hinausgehen, um sein Opfer zu würdigen?
Noch heute sehe ich mich das Saatgut, das Holger auf seiner Matratze hat liegen lassen, in meinen Händen wiegen. Ein Haufen kleiner Papiersäckchen mit handschriftlichen Anweisungen, wie und wann die Samen zu säen sind.